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Introduction: Leben im Falschen: Wohnen bei Brecht und Müller
- Edited by Markus Wessendorf, University of Hawaii, Manoa
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- Book:
- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 48
- Published by:
- Boydell & Brewer
- Published online:
- 22 February 2024
- Print publication:
- 14 November 2023, pp 13-40
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- Chapter
- Export citation
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Summary
In Erwägung, dass da Häuser stehen
Während ihr uns ohne Bleibe lasst
Haben wir beschlossen, jetzt dort einzuziehen
Weil es uns in unsern Löchern nicht mehr passt.
So klingt die Resolution an, die von den Revolutionären in Bertolt Brechts Tage der Kommune formuliert wird. Die Wohnungsfrage markiert bereits den Beginn des Stückes: Mme Cabet kann die Miete nicht zahlen. Wohnraum ist in der Stadt heiß umkämpft, an seiner Unverfügbarkeit für so viele entzünden sich soziale Revolutionen. Darin unterscheiden sich die Jahre 1871, 1949 (in dem Brecht das Stück schreibt) und das gegenwärtige 2023 kaum: jedes reklamiert einen Neuanfang der Geschichte, durch den die Aufständischen “[z]um ersten Mal” verkünden könnten: “die Stadt ist bewohnbar.” Wohnen bedeutet dabei nicht nur die Abwesenheit von Bedrohung und die Rettung aus der Prekarität; es enthält das Versprechen eines neuen, gerechten Zusammenlebens. Die auf der Bühne, im Text und durch politisches Handeln “publizierten Bauten” lassen die Wohnung so auch zum “Möglichkeitsraum für andere” werden.
Brecht, wie später auch Heiner Müller, fand im Wohnen einen Nexus sozialer Verhältnisse, an dem die Aporien kapitalistischer Gesellschaft zum Tragen kommen. In Stücken, Prosa, Gedichten und Interviews erkundeten beide das Wohnen als Zwischensphäre von Lebenspraxis, Theorie, Urbanistik und Ästhetik. Die historischen Entwicklungen, denen das Wohnen im zwanzigsten Jahrhundert unterworfen war, lassen sich dabei gerade aus der Konstellation Brecht-Müller ablesen. Während Brecht noch dazu aufrufen konnte, “das Land zu bebauen, das wir verfallen ließen, und / Die wir verpesteten, die Städte / Bewohnbar zu machen,” konstatiert Müller einige Jahrzehnte später in der gleichen Stadt und deutlich pessimistischer: “Unsere ökologischen Probleme sind allenfalls durch Evakuierung auf andere Planeten zu lösen… . Alle können sie aber von der unbewohnbaren Erde nicht weg, und dann wird ausgewählt. Wer fährt mit?” Das politisch und technologisch progressive Projekt einer “Bewohnbarmachung der Erde” und damit auch seine dialektische Kehrseite, ihre potenzielle Unbewohnbarkeit, rufen Überlegungen auf, die an zeitgenössische Umwelt- und Zukunftsfragen ebenso anschließen wie an sozialpolitische Fragen nach der (Un-)Möglichkeit des Wohnens in der gentrifizierten Stadt. Blickte Müller finster in die Zukunft eines vereinigten Berlins, in dem der “Wirtschaftskrieg gegen das Wohnrecht” sich allmählich in einen “Krieg gegen die Wohnungslosen” verwandelt, so versuchte Brecht, die Vergangenheit der Metropole zu erretten, indem er die “alltäglich erscheinenden / Tausendfachen Vorgänge in verachteten Wohnungen / Unter den Vielzuvielen als historische Vorgänge” untersuchte.
Chapter 9 - Brecht’s Interviews
- from Part I - Brecht’s World
- Edited by Stephen Brockmann, Carnegie Mellon University, Pennsylvania
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- Book:
- Bertolt Brecht in Context
- Published online:
- 28 May 2021
- Print publication:
- 10 June 2021, pp 81-88
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- Chapter
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Summary
This essay introduces Brecht’s oft-neglected interviews. First, it reviews efforts to incorporate these interviews in (or exclude them from) his body of work, before outlining Brecht’s own interest in the form as a both a source of material and a platform for his views. At the center of the article is an examination of Brecht’s interview with Die literarische Welt in 1926. Archival material is used to illuminate the process of construction behind the conversation, which contains Brecht’s first discussion of epic theater. Finally, the article sketches two key influences on the development of his interviews: his embrace of radio as a new medium and his commitment to Marxist media tactics.
Flüchtlingsinterviews: Brecht im Gespräch 1935
- Edited by Markus Wessendorf
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- Book:
- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 45
- Published by:
- Boydell & Brewer
- Published online:
- 09 February 2021
- Print publication:
- 20 November 2020, pp 322-340
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- Chapter
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Summary
Die wesentliche Stellung, die Bertolt Brechts zum Teil verlorene, zum Teil vergessene Interviews in seiner schriftstellerischen Praxis einnahmen, ist bisher noch nicht erkannt worden. Dabei eröffneten sie ihm sein ganzes professionelles Leben hindurch eine Möglichkeit von theoretischer, politischer und literarischer Massenkommunikation, auf die er keinesfalls verzichten wollte. Nie war dies deutlicher als während der sechzehn Jahre, die er im Exil verbrachte. Im Lichte von Archivfunden, die die Basis einer ersten Edition von Brechts Interviews bilden sollen, können die Gespräche, die Brecht an fast jeder seiner Asylstationen mit Journalisten führte, jetzt neu bewertet und gedeutet werden. Im Folgenden wird das redaktionelle Schicksal von Brechts Interviews nachgezeichnet, um sie dann mit Blick auf Entwicklungen der Form in der Weimarer Zeit zu kontextualisieren; danach sollen anhand von Materialien aus dem Bertolt-Brecht-Archiv die Praktiken, Strategien und Formen der Exilinterviews des Jahres 1935 untersucht werden. Wie gezeigt werden soll, bot das Interview kein bloßes Ventil für einen Künstler, der seinen Zugang zum Publikum verloren hatte, sondern ein unerlässliches Medium seines Exils: intim und intellektuell, engagiert und apparativ, literarisch und massenwirksam.
Brechts Interviews: Die Quellenlage
Brechts Karriere als öffentlicher Gesprächspartner begann schon früh in seiner Schriftstellerlaufbahn: Die ersten Zeitungsgespräche stammen aus dem Jahr 1926, in das auch die Uraufführung von Mann ist Mann, die erste Begriffsbildung zum epischen Theater und sein erstes Studium des Marxismus fallen. Damit öffnete sich neben dem inszenatorischen, theoretischen und politischen ein weiteres mediales Schaffensfeld, das er über die nächsten dreißig Jahre erkunden sollte. Aber während die feierlichen, formal konservativen Interviews eines Thomas Mann eine zentrale Rolle in der germanistischen Interviewforschung gespielt haben, sind Brechts experimentierfreudig- verwegene Beiträge zur Form noch kaum wahrgenommen worden.
Nach der Veröffentlichung von Brechts Gesammelten Werken 1967 standen seine Erben, Archivare und Herausgeber vor der Entscheidung, ob und wie der mündlich verfasste Teil seines Werkes zu veröffentlichen sei. Dafür kamen die vielen Privatunterhaltungen, Podiumsdiskussionen und Arbeitsgespräche in Frage, die von seinen Freunden und Mitarbeitern akribisch mitgeschrieben und aufbewahrt wurden, aber auch Dutzende von technisch reproduzierten, journalistisch geführten Gesprächen, d.h. Interviews.